Künstlerische Darstellung von Higgs-Boson (© ÖAW/ Harald Ritsch)

Das europäische Kernforschungszentrum Cern mit Sitz in Genf stellt in einem neuen Strategiepapier die Weichen für die Zukunft. Die Planungen sehen einen Teilchenbeschleuniger für die Produktion von Higgs-Bosonen vor und Studien zum Bau eines Nachfolgers des Large Hadron Colliders, der die siebenfache Energie erreichen soll.

Die mit dem Nobelpreis gewürdigte Entdeckung des Higgs-Bosons war erst der Anfang: Das lange gesuchte und 2012 an der Europäischen Organisation für Kernforschung (Cern) erstmals nachgewiesene Elementarteilchen hat das Tor zu völlig neuen Forschungen und Erkenntnissen aufgestossen. Nun soll zukünftig eine "Higgs-Fabrik" das grosse Potenzial dieses Forschungsfelds erschliessen und dem noch immer weitgehend mysteriösen Teilchen auf die Spur kommen. Das ist eine der Empfehlungen der vom Cern ins Leben gerufenen European Strategy Group. Diese vereint Teilchenphysiker/innen aus den europäischen Mitgliedsländern, um über die zukünftige Ausrichtung der europäischen Teilchenphysik und damit auch der bei Genf in der Schweiz beheimateten Wissenschaftsinstitution zu beraten.

In ihrer am 19. Juni 2020 präsentierten Forschungsstrategie schlägt die Gruppe von Teilchenphysiker/innen den Bau eines neuen Elektronen-Positronen-Beschleunigers vor. Mit dieser Higgs-Fabrik sollen Higgs-Bosone erzeugt und genauer als bisher untersucht werden. Die Forscher/innen versprechen sich davon neue Hinweise für die Suche nach einer Physik jenseits des bisher gültigen, aber lückenhaften Standardmodells. Dazu beitragen soll neben der Higgs-Fabrik auch eine bereits 2013 in die Wege geleitete Erweiterung des bestehenden Teilchenbeschleunigers Large Hadron Collider (LHC).

Nachfolger des LHC

Ein solcher Future Collider könnte Energien von mindestens 100 Teraelektronenvolt – dem Siebenfachen des LHC – erreichen. Um die technische und finanzielle Umsetzbarkeit eines solchen zukünftigen Beschleunigers zu prüfen, empfehlen die Physiker/innen eine Machbarkeitsstudie, die noch in diesem Jahrzehnt abgeschlossen werden soll.

Parallel dazu sollen auch alternative Konzepte von Beschleunigern evaluiert werden. Dazu gehören etwa Plasma-Wakefield-Beschleuniger, bei denen Elektronen mit Plasmawellen beschleunigt werden, oder ein Myonen-Collider. Myonen sind enge Verwandte des Elektrons, haben aber eine 200 Mal so große Masse. Dadurch wären energiereichere Kollisionen möglich. Allerdings zerfallen Myonen schneller und müssten aufwändig aufbereitet werden. Deswegen soll die Realisierbarkeit dieser Konzepte auf den Prüfstand gestellt werden.

Mehr Open Access und Industriepartnerschaften

Neben Machbarkeitsstudien für neue Beschleuniger rät die Strategiegruppe zur Ausarbeitung einer Technologie-Roadmap im Bereich der Beschleunigerentwicklung, in der beispielsweise Synergien mit anderen Wissensgebieten, wie der Photonen- und Neutronenwissenschaft oder der Fusionsenergie, ausgelotet werden sollen. Darüber hinaus soll eine stärkere Öffnung zu Fachbereichen wie der Astrophysik oder der Kernphysik angestrebt werden.

Auch die Zusammenarbeit mit der Industrie will man weiter intensivieren. Neben Forschungen an Hochtemperatursupraleitern, die ein enormes Anwendungspotenzial, zum Beispiel für die verlustfreie Leitung von Strom mit niedrigem Aufwand, versprechen, betrifft dies auch den Austausch von Wissen. So soll künftig noch stärker als bisher am Cern gewonnenes Know-how geteilt werden, beispielsweise in Form von Open Access und Open Science. Aber auch bei bestehenden Kooperationen, wie dem medizinischen Teilchenbeschleuniger Medaustron, soll die Innovationskraft durch den verstärkten Austausch von Grundlagenforschung und angewandter Forschung weiter stimuliert werden, damit neue Erkenntnisse und Anwendungen möglichst vielen Menschen zugute kommen.